Performance-Reihe: Auf der Rückseite des Friedhofs sind alle Grabsteine leer
In Joseph Beuys’ ikonischer Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ (1965) wird der tote Hase zum Sinnbild eines Betrachters, der seine Lebendigkeit, seine Fähigkeit zu verstehen und zu fühlen, verloren hat. Beuys’ Geste der vermeintlichen Erklärung ist keine rationale Auflösung, sondern ein poetisches Umkreisen von Sinnverlust und menschlicher Ohnmacht. In ähnlicher Weise tritt Alexander R. Titz in seiner Performance-Reihe „Auf der Rückseite des Friedhofs sind alle Grabsteine leer“ in einen Dialog mit den Gefallenen, deren Identitäten durch den Krieg und die ihn begleitende Propaganda auf eine Sinnebene gebracht und so auf Kosten ihres individuellen Lebens eingeebnet wurden.
„Walscheid“, digitaler Druck auf Alu-Dibond, 80×120 cm, 2024/2025
Erstveröffentlichung im Rahmen der Ausstellung zum 40jährigen Bestehen des Saarländischen Künstlerhauses „Klima XL“
Indem der Performer vor jedem Grabstein inne hält, den Namen liest und sich auf die Erde legt, scheint er jenseits von Worten zu gedenken. Diese Handlung kann als Versuch gelesen werden, den gefallenen Soldaten posthum die Absurdität ihres Sterbens im Kontext von Kriegslogik und nationalen Ideologien zu „erklären“. Doch diese vermeintliche „Erklärung“ ist von vornherein zum Scheitern verurteilt: Die Geste des Sich-Hinlegens ist keine Glorifizierung oder Reinszenierung, sondern ein Akt des Hinterfragens und der Anteilnahme. Der Performer legt sich bewusst quer zu den staatliche und ideologische Narrativen, die den Tod im Krieg mit Ehrenhaftigkeit oder Pflichtgefühl rechtfertigen. Der leuchtend rote Overall, in dem der Körper des Performers steckt, nimmt dabei (abgesehen von der Farbigkeit!) das militärische Schema der Uniform auf und steigert es sogar durch die serielle Weidergabe der selben Person im Bild. Dagegen erwecken die unterschiedlichen Körperhaltungen den Eindruck einer lebendigen und individualisierten Präsenz, die durch die Uniformität der Grabsteine verloren gegangen ist.
Das Sich-Niederlegen vor jedem Grabstein ist eine symbolische Handlung, die sowohl Demut als auch Protest ausdrückt. Die Geste erinnert an religiöse Traditionen wie die Prostration, die in verschiedenen Kulturen als Ausdruck von Hingabe, Demut und Verbindung mit dem Höheren verstanden wird. Hier jedoch wird die Geste auf eine weltliche Ebene transferiert: Der Performer geht nicht nur physisch zu Boden, sondern macht sich symbolisch gleichwertig mit den Gefallenen. Diese Handlung könnte als „Erklärung“ gelesen werden, nicht im Sinne einer Rechtfertigung, sondern als Versuch, eine Verbindung herzustellen – eine gemeinsame Menschlichkeit, die über die Ideologien und die Gewalt des Krieges hinausgeht. Die Handlung des Performers ist dabei bewusst ambivalent. Sie wirft die Frage auf, ob überhaupt eine Rechtfertigung oder ein Sinn für den Tod im Krieg gefunden werden kann. Sie scheint zu sagen: „Auch ich, der ich mich hier niederlege, teile eure Menschlichkeit, eure Fragilität, eure Sehnsüchte und euren Wunsch nach einem sinnerfüllten Leben.“
Die Performance wirft aber auch Fragen auf: Ist es legitim, diesen Dialog so zu inszenieren? Könnte die Aktion als pietätlos wahrgenommen werden und die Gefühle der Hinterbliebenen verletzen? Oder öffnet sie vielmehr einen Raum für eine neue Form des Gedenkens, die über traditionelle militärische Rituale hinausgeht? Die Performance stellt diese Fragen, ohne eine definitive Antwort zu geben. Sie fordert die Betrachterinnen und Betrachter dazu auf, sich mit den eigenen ambivalenten Gefühlen auseinanderzusetzen.
Rudolf Zwirner über die Aktion von Joseph Beuys:
„Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“
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